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Sieg­fried, Wal­kü­ren­schar und Inzest — “Der Ring an einem Abend” in der Oper Graz


Text: Lukas Wogrol­ly / Living Cul­tu­re; Fotos: Oli­ver Wolf
Eine ganz beson­de­re Insze­nie­rung von Richard Wag­ners 4‑teiligem Ring des Nibe­lun­gen ging in der Oper Graz in Sze­ne.

Eigent­lich dau­ert die Auf­füh­rung aller vier Tei­le der Wag­ner-Tetra­lo­gie „Ring des Nibe­lun­gen“ zusam­men 16 Stun­den. Ist das „Rhein­gold“ als ers­ter Teil mit zir­ka zwei­ein­halb Stun­den Spiel­zeit noch im Nor­mal­be­reich einer Oper hin­sicht­lich der Län­ge anzu­sie­deln, so sind die drei wei­te­ren Tei­le „Die Wal­kü­re“, „Sieg­fried“ sowie die „Göt­ter­däm­me­rung“ mit jeweils zir­ka vier Stun­den genau jene Wer­ke, die Richard Wag­ners Ruf als Meis­ter der end­lo­sen Opern aus­ma­chen. Gezeigt wird in der Oper Graz jedoch kei­nes der vier Stü­cke. Son­dern eine um zir­ka drei­zehn Stun­den ver­kürz­te Sprech­ver­si­on des gesam­ten „Rings des Nibe­lun­gen“. Ver­ant­wort­lich für die­se Kurz­fas­sung mit dem Titel „Der Ring an einem Abend“ zeich­ne­te vor ziem­lich genau drei­ßig Jah­ren, ein gut ein­hun­dert Jah­re nach Richard Wag­ner leben­des Uni­ver­sal­ge­nie der­sel­ben Natio­na­li­tät: Vic­co von Bülow, bes­ser bekannt als Lori­ot, fass­te in sei­nem Werk 1992 das Gesche­hen oft nur mit einem Satz oder gar nur einem Wort zusam­men. Und das auf die ihm bekann­te oft sati­risch-poin­tier­te Art und Wei­se, für die er mit sei­nen Sket­ches welt­be­rühmt wur­de. Bevor wir näher auf die Beson­der­hei­ten die­ser Kurz­fas­sung ein­ge­hen, ein Ver­such: Wie wür­de Lori­ot das Wag­ner­sche Göt­ter­ge­sche­hen in einem Graz-Kon­text sehen?

Nun ja, Graz- bezie­hungs­wei­se Öster­reich-Bezü­ge gibt es in der von Wag­ner dar­ge­brach­ten ger­ma­ni­schen Göt­ter­welt genug. Begin­nend mit der Nibe­lun­gen­gas­se, an der das Uni­ver­si­täts­zen­trum WALL eben­so liegt wie die impo­san­te Herz-Jesu-Kir­che mit dem dritt­höchs­ten Kirch­turm von ganz Öster­reich.

Über die in der ger­ma­ni­schen Mytho­lo­gie zen­tra­le Figur des Sieg­fried. Auch in der jün­ge­ren Geschich­te der Stadt Graz fin­det sich die Figur eines Sieg­fried. Des­sen sagen­haf­tes Gra­zer „Hel­den­epos“ 1998 als Finanz­stadt­rat begann, 2003 in der Wahl zum spä­ter längst­die­nen­den Gra­zer Bür­ger­meis­ter sei­nen Höhe­punkt erreich­te und im Sep­tem­ber 2021 mit einem dra­ma­ti­schen Wahl­sieg der Kom­mu­nis­tIn­nen sein uner­war­te­tes Ende fand.

Und dann ist da noch der lust­vol­le Göt­ter­va­ter Wotan. Der zwi­schen Teil 1 „Rhein­gold“ und Teil 2 „Die Wal­kü­re“ zusätz­lich zu sei­ner Lieb­lings­toch­ter Brünn­hil­de acht wei­te­re Töch­ter zeugt, genannt „Die Wal­kü­ren“: Ger­hil­de, Ort­lin­de, Wal­trau­te, Schwert­lei­te, Helm­wi­ge, Sie­grun­de, Grim­ger­de und Ross­wei­ße. Sie alle haben im zwei­ten der vier Abschnit­te ihren gro­ßen Auf­tritt.  Mich erin­nern die­se vie­len Nach­kom­men an die bekann­te Gra­zer Fami­lie Hof­mann-Wel­len­hof. Über deren Kin­der­reich­tum von acht leib­li­chen Kin­dern plus einem Adop­tiv­sohn der Vater Gott­fried nicht nur eine all­wö­chent­li­che Sonn­tags­ko­lum­ne in der Klei­nen Zei­tung schreibt, son­dern auch schon Bücher geschrie­ben hat.

Doch lei­der sticht bei der von Wag­ner und Lori­ot so ein­drucks­voll ver­mit­tel­ten ger­ma­ni­schen Göt­ter­welt neben dem Kin­der­reich­tum auch noch ein wei­te­res, bri­san­tes The­ma als hoch­ak­tu­ell her­vor, das jedoch bei wei­tem nicht so erfreu­lich ist. Der Inzest, wie ihn die Erzäh­le­rin Maria Hap­pel und somit auch Lori­ot vor 30 Jah­ren for­mu­liert, am Bei­spiel des sich lie­ben­den und dann im Lau­fe des Dra­mas zum Tode ver­ur­teil­ten Geschwis­ter­paa­res Sieg­mund und Sieg­lin­de. Josef Fritzl bezie­hungs­wei­se die­ses Stück ist der ein­drucks­vol­le genau­so wie trau­ri­ge Beweis dafür: Ob nun Göt­ter oder Men­schen, ob einst oder heu­te. Es gibt da wie dort unsag­ba­res Leid.

Doch nun zurück zu Lori­ots „Der Ring an einem Abend“. Die mar­kan­tes­te Beson­der­heit neben der Ver­kür­zung um drei­zehn Stun­den auf ins­ge­samt gut drei Stun­den ist zwei­fels­oh­ne das Feh­len eines Büh­nen­bil­des. Wie bei einem Kon­zert steht das Orches­ter nicht im Orches­ter­gra­ben, son­dern auf der Büh­ne. Und die wich­tigs­ten han­deln­den Akteu­re und Akteu­rin­nen tre­ten aus dem Hin­ter­grund her­vor und per­for­men ihre Ari­en mit berühm­ter orches­tra­ler Beglei­tung unter dem Diri­gat von Roland Klut­tig. Die wohl für Wag­ner cha­rak­te­ris­tischs­te Sze­ne ist dabei sicher­lich der gemein­sa­me Auf­tritt und Gesang aller acht Wal­kü­ren in der gleich­na­mi­gen Oper bezie­hungs­wei­se im gleich­na­mi­gen Abschnitt, deren Namen bereits oben genannt wur­den. Wag­ner und Lori­ot als Autoren von einst, Roland Klut­tig als musi­ka­li­scher Lei­ter von heu­te. Die vier­te im Bun­de der Ori­gi­na­le Made in Ger­ma­ny ist die Erzäh­le­rin Maria Hap­pel. Wie bereits anfangs erwähnt, besteht die Essenz von Lori­ots „Der Ring an einem Abend“ dar­in, das Gesche­hen der über­lan­gen Opern in ein­zel­nen Sät­zen oder gar nur Wor­ten gekonnt poin­tiert zusam­men­zu­fas­sen. Dem­entspre­chend kommt auch der Rol­le der Erzäh­le­rin an die­sem Abend eine zen­tra­le Bedeu­tung zu.

Für einen gelun­ge­nen Opern­abend braucht es also: nicht unbe­dingt ein Büh­nen­bild, aber: 4 Ori­gi­na­le „Made in Ger­ma­ny“ mit Wag­ner, Lori­ot, Klut­tig und Hap­pel. Über­zeu­gen­der Gesang von den inter­na­tio­na­len Akteu­rin­nen und Akteu­ren, vie­le davon ob der Wag­ner­schen Figu­ren­viel­falt mit Dop­pel­rol­len bedacht: Tetia­na Miy­us als Wog­lin­de und Helm­wi­ge, Dani­el Kirch als Sieg­mund und Sieg­fried, Marei­ke Jan­kow­ski als Fri­cka und Wal­trau­te, oder auch der aus „Der flie­gen­de Hol­län­der“ bekann­te ame­ri­ka­ni­sche Bass­ba­ri­ton Kyle Albert­son als Wotan & Der Wan­de­rer. Nicht zu ver­ges­sen die nament­li­che Dis­kre­panz mit ein biss­chen Augen­zwin­kern: Sieg­lin­de Feld­ho­fer spielt Ort­lin­de & Gut­ru­ne, nicht aber die Figur Sieg­lin­de. Denn die ist Bet­sy Hor­ne, ohne Dop­pel­rol­le im Übri­gen, vor­be­hal­ten. Dazu noch eini­ge ande­re Akteu­rin­nen und Akteu­re. Und dann braucht es natür­lich auch eini­ges an Steh- bezie­hungs­wei­se Sitz­ver­mö­gen. Denn knapp drei­ein­halb Stun­den brut­to inklu­si­ve Pau­se sind auch mehr als ein durch­schnitt­li­cher Opern­abend. Natür­lich hilft dabei ein biss­chen das Zusam­men­fas­sen des Gesche­hens durch die Sprech­tex­te. Aber: Das Büh­nen­bild hät­te man aus mei­ner Sicht ja viel­leicht auch digi­tal pro­ji­zie­ren kön­nen. Denn so erin­nert das Gan­ze auch ein biss­chen an Stu­di­en­opern für Musik­stu­die­ren­de. Und: es weist mar­kan­te Ähn­lich­keit mit einem Hör­spiel auf. Die Prä­senz einer fast Mär­chen­er­zäh­le­rin wie in den Schlumpf-Hör­spie­len mei­ner Kind­heit. Und eben die vol­le Kon­zen­tra­ti­on auf Geschich­te, poin­tiert wie tra­gisch, und Musik. Ein Kon­zert, ein sze­ni­sches Erleb­nis, dem das Opti­sche fehlt. Und das somit sowohl für Men­schen mit visu­el­ler Beein­träch­ti­gung als auch als Hör­spiel nichts von sei­nem Reiz ein­bü­ßen wür­de. Auch, aber nicht nur ob der fort­ge­schrit­te­nen Stun­de nach über 3 Stun­den klang­vol­ler Wag­ner-Göt­ter­welt, schloss ich gegen Ende der Vor­füh­rung immer wie­der die Augen. Und konn­te alles, also das Klang­er­leb­nis bestehend aus Orches­ter, Erzähl­stim­me und Opern­ge­sang, fast genau­so schön und ein­drucks­voll erle­ben wie zuvor mit geöff­ne­ten Augen.

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DER RING AN EINEM ABEND

Musi­ka­li­sche Lei­tung Roland Klut­tig

Erzäh­le­rin Maria Hap­pel

Wotan | Wan­de­rer Kyle Albert­son
Fri­cka | Wal­trau­te Marei­ke Jan­kow­ski
Ort­lin­de | Gut­ru­ne Sieg­lin­de Feld­ho­fer
Well­gun­de | Ger­hil­de Cori­na Kol­ler
Floß­hil­de | Roß­wei­ße Anna Brull
Sieg­mund | Sieg­fried Dani­el Kirch
Sieg­lin­de Bet­sy Hor­ne
Wog­lin­de | Helm­wi­ge Tetia­na Miy­us
Schwert­lei­te Mari­ja­na Niko­lić
Gun­ther Neven Crnić
So 22. Mai 2022
Zum letz­ten Mal
18:00 bis ca. 21:30Opern­haus Haupt­büh­ne
€ 5 bis € 67
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